Der Baumschwamm

Eine Weihnachtsgeschichte 

 

Der Glühwein am Herd dampfte, es roch nach Nelken, Zimt und Orangen in der kleinen Küche der Familie Fibel.  Der Vater hatte Weihrauch aufgelegt und zwar ordentlich. 
Das ganze Haus war erfüllt von weihnachtlichem Duft. Weihnachtsmusik des hiesigen Saiten-Zupf-Quintettes umrahmte das ganze Ambiente. 

Doch von all dem bekam Lois nicht viel mit. Er nahm nur wenige, dumpfe Geräusche wahr. Alles, was er je gehört hatte, klang dumpf. Gute Ohren hin oder her.
Der Grund: Seit über 30 Jahren trug er ein Schaf auf seinen Schultern und dessen Wolle verstopfte seine Ohren.
Früher, als die Kinder der Familie Fibel noch klein und laut waren, war er Gott dankbar dafür gewesen, doch jetzt wünschte er sich, dieses Schaf würde wenigstens einmal auf eigenen Beinen stehen.

Lois war unzufrieden. Es war ja nicht nur, dass er kaum etwas hörte. Auch seine Sicht war wirklich eingeschränkt, denn wenige Zentimeter vor ihm stand ein riesiger Baumschwamm. Der war so groß, dass er ihn - einen hochgewachsenen, kräftigen Mann - sogar noch überragte. 
Er hatte wirklich die Nase voll. Und deshalb roch er auch nichts von dem Weihrauch und den anderen weihnachtlichen Düften im Haus.

Der Platz, der ihm zugewiesen war, hatte nicht nur schlechte Seiten. Er war ihm vertraut und das gab ihm auch ein Gefühl der Sicherheit. An manchen Tagen war es also ganz okay, hier zu stehen.
Aber in diesem Jahr ging Lois seine Platzierung genau hinter dem Baumschwamm mächtig auf den Zeiger. 


Besagter Baumschwamm stand links vom Stall zu Bethlehem, der hier im alpenländischen Almhütten-Stil vertreten war. Der Schwamm sollte den Stall wohl vor Wind und Regen schützen oder einen großen Felsen darstellen, wer weiß das schon so genau. 
Die gesamte Krippe war aus Wurzeln, Holz, Moos und anderen Naturalien aus dem Wald gefertigt. 
Der Stall, in dem Maria, Josef und das Jesuskind geduldig den hirtlichen Besuch empfingen, wurde durch eine kleine, flackernde Laterne erhellt. Auf dieses Licht war nicht wirklich Verlass, schon seit ihrer Montage hatte sie einen Wackelkontakt. Aber so wie auch alles andere an dieser Krippe, blieb das seit 30 Jahren genau so, wie es schon immer war. 
Jeder Hirte, jedes Schaf und auch die drei Weisen hatten ihren Bestimmungsort. 

Wie auch Lois. Er präsentierte den Hirten, der noch immer zur Krippe eilte und noch nicht angekommen war. Er war der Letzte, denn er schleppte ja das Schaf mit sich herum. Das war übrigens auch so eine Ungerechtigkeit. Obwohl die drei Weisen noch später kamen, überholten sie ihn und bekamen einen Platz in der vordersten Reihe. Bei Lois konnte von Eilen also nicht die Rede sein. Er bewegte sich keinen Millimeter, seit 30 Jahren. 

Wobei, ganz stimmt das nicht:

Es gab einen Tag vor 25 Jahren - da lebten noch kleine Kinder im Hause Fibel. Denen war völlig gleichgültig, wie die eigentliche Platzordnung in der Krippe war. Maria durfte in unbeobachteten Momenten mit ins Puppenhaus, die Schafe machten einen Ausflug zum Playmobil-Bauernhof und Lois wurde an diesem besonderen Tag von klebrigen Kinderhänden direkt neben die Futterkrippe gestellt, indem das Jesuskind lag.  

Lois konnte es zuerst nicht fassen. Er, in der ersten Reihe! Er konnte IHN sehen, er konnte die Engel singen hören, er roch die weihnachtlichen Düfte. Er genoss jede Sekunde. 
Von diesem Augenblick zehrte er noch lange. Auch lange nachdem die älteste Schwester ihn wieder an seinen Platz hinter dem Baumschwamm zurückgestellt hatte. 

Mit den Jahren, die vergingen, verblasste jedoch die Erinnerung an dieses Erlebnis. Lois fragte sich manchmal, ob er das vielleicht alles nur geträumt hatte? Tag für Tag sah, hörte, spürte er nichts von dieser göttlichen Gegenwart. Nicht einmal ein Hauch von weihnachtlicher Freude kam hinter den Baumschwamm zu ihm geweht. 

Weihnachten. Hatte das überhaupt irgendwas mit ihm zu tun? Für ihn fühlte es sich eher an wie eine leere Tradition. 


Plötzlich wurde Lois in seinen Gedanken unterbrochen. Die dumpfen Geräusche um ihn wurden lauter. Was war denn los? Es war der junge Hirte Peter, der den anderen in der Krippe aufgeregt etwas zurief. Die Enkelkinder kommen! 


Oh nein. Wärst du eine kleine Holzfigur in einer Krippe, würdest du den Aufruhr verstehen, der nun ausbrach. Franz, der älteste der Hirten, bangte um seinen Stock. Der musste jedes Mal erneuert werden, nachdem die Kinder ihn in die Finger bekommen hatten. 

Maria schaute bangend zur Laterne hoch. Bald würde es wieder losgehen: Ein. Aus. Ein. Aus. Ein. Aus. Dazu freudiges Gekreische. Hoffentlich bekam sie diesmal keine Kopfschmerzen davon. 

Die Schafe blökten freudig, sie erwarteten einen Ausflug auf den saftig grünen Adventskranz - das Moos in der Krippe hatte nach 30 Jahren einfach keinen Geschmack mehr. 


Lois sah all dem gleichgültig entgegen. Er war noch nie die große Attraktion gewesen. Wahrscheinlich würde er genau hier stehen bleiben, so wie immer.
Die Enkelkinder kamen, ignorierten die Ermahnungen ihrer Eltern und stellten die Krippe auf den Kopf.
Lois hatte Recht behalten, er wurde nicht bewegt, was ihn sehr frustrierte. 
Zu seiner Überraschung bekam er aber Besuch. Ein kleines braunhaariges Mädchen mit laufender Nase stellte ihm jemand zur Seite. Besser gesagt, wurde dieser jemand an die Baumrinde neben ihm gelehnt. 
Lois wunderte das nicht, in solchen Schuhen würde er auch nicht stehen können. Aus den Augenwinkeln wanderte sein Blick an enorm langen Beinen hoch. 

Jetzt war sein Interesse geweckt. Die Person hatte eine schlanke Taille, die von einem glitzernden kleinen Fetzen verhüllt wurde, lange blonde Haare und glänzende Haut. 

“Hi! Interessantes Puppenhaus habt ihr da”, sagte sie. Sie klang ganz nett und wirklich ahnungslos. Wo kam die denn her? Auch aus dem Morgenland?

“Das ist kein Puppenhaus. Das ist der Stall zu Bethlehem, in dem unser Heiland Jesus Christus geboren ist.”

“Oh! Wirklich?! Und wer ist das?” 

“Du kennst Jesus nicht? Er ist Gottes Sohn! Gott hat ihn zu uns geschickt, als kleines, wehrloses Baby, um uns zu zeigen, wie sehr er uns liebt!  Jesus ist gekommen, um uns zu retten!”

“Zu retten? Vor was denn?”, fragte die langbeinige Plastikschönheit.

“Er rettet und vor dem Bösen! Er rettet uns davor, ein sinnloses Leben zu führen. Er will uns ein Leben in Fülle schenken, eines, das sogar nach dem Tod noch weitergeht”, erklärte Lois.

“Ein Leben nach dem Tod? Das widerspricht sich doch”, erwiderte seine Besucherin. “Ich verstehe es nicht ganz, aber es scheint eine große Sache zu sein, an der du da irgendwie beteiligt bist. Warum schaust du denn dann so griesgrämig? Du hast da eine tiefe Falte zwischen deinen Augenbrauen. Die sieht nicht gut aus.” 

Doch bevor Lois ihr antworten konnte, hatte eine kleine Kinderhand seine Besucherin wieder fortgetragen. 


Lois dachte nach. Und auf einmal verstand er es. Freude durchflutete ihn von seinen Falten auf der Stirn bis zu den Zehen. Auch wenn er nicht an diesem blöden Baumschwamm vorbei sah - er WUSSTE es doch, dass ganz nahe sein Heiland lag! 

Er - Lois - war Teil von dieser Geschichte! Was für eine Ehre! Er war keine Plastikpuppe, die noch nie etwas von Gott gehört hatte - er war Teil von Gottes Heilsgeschichte. 


Seit dieser Erkenntnis war Lois nicht mehr der griesgrämige letzte Hirte. Er war der erste Hirte. Er stand ja ganz außen, da war er tatsächlich der erste, den man sah, wenn man zur Krippe schaute. 

Lois stand weiterhin an diesem Platz, ohne etwas zu sehen, zu hören oder zu riechen, doch das änderte nichts an der Tatsache, dass Jesus ihm ganz nahe war. Nur ein Baumschwamm trennte ihn von ihm. 

Von nun an wollte er ein Zeuge sein, für alle, die das Jesuskind gerade nicht sehen, hören oder fühlen konnten. 

Er strahlte vor Liebe, Freude und dem Wissen, hier an seinem Platz ganz außen, eine ganz wichtige Rolle zu spielen. 


Salzburg, 20.12.2024